"Mündig", Elke Erb (DE)


Mündig 


Die Tränen der Plattform,
ehe sie verlaufen,
reden mit mir: wie die Meinung
mich reute.

Ruhe, Ruhe, zur Ruh
spricht die Buche mir zu.
Ja, lallt die Pappel?
Was verficht denn die Fichte?

Fingerhut? Füchse? Nichts
sagen Birken. Zum Ahorn! was
ist eine Ahorns-Antwort?
Und was lispelte die Linde?

Tränen und Berg und Tal.
Ehe sie verlaufen,
die Tränen der Plattform
reden mit mir wie die Leute.



"Weniger gesehen werden Gedichte, die politisch zwar ebenso ans Eingemachte gehen, aber nicht frontal angreifen, ihre Gegenstände vielmehr zum Anlass nehmen, etwas über sich selbst - ihre Sprache, ihre Verfasse, ihre Leser - herauszufinden. Die sich dafür interessieren, was man selbst mit all dem zu tun hat.
"Mündig" von Elke Erb ist ein solches Gedicht....
Auch wenn die politische Bezüge des Gedichts heute Geschichte sind, die Beobachtungen und Überlegungen, die es zum Verhältnis von eigenständigem und gelenktem Denken und Sprechen, zur Meinungsbildung in den konfliktträchtigen Konstellationen von Mainstream und Abweichung anstellt, sind unvermindert relevant. Das scheint mir das Beste zu sein, was sich über ein politisches Gedicht sagen lässt: dass es seiner Anlage nach nicht veralten kann, weil es einen existentiellen Konflikt auslotet und es seinen Lesern ermöglicht, ihn in ihrer eigenen Zeit wiederzuerkennen, ihn in seiner ganzen Tragweite zu sehen....
Ihr Postskriptum dazu schließt mit dem Satz:
"Die Flanken der Individualität, die Meinung heißt, gingen wie brennende Schranken durch mich und lösten die Tränen aus."

- Frankfurter Anthologie-

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